Wolfgang Priklopils Haus steht in der Einfamilienhaussiedlung wie ein Mahnmal für das, was hinter hohen Hecken und dicken Mauern unbemerkt von den Nachbarn geschehen konnte. Wo früher jeder Grashalm penibel geschnitten war, wuchern heute hohes Gras, Efeu und Wiesenblumen. Einmal in zwei Monaten kommt Natascha Kampusch hierher, um nach dem Rechten zu sehen. Das Haus wurde ihr als Entschädigung für das Erlittene zugesprochen, doch es ist mehr Fluch als Segen. Im Inneren scheint die Zeit stehen geblieben zu sein, doch Kälte und eindringendes Wasser haben das unbewohnte Haus in Mitleidenschaft gezogen. In den vergangenen Jahren wollte Natascha Kampusch das Haus unterschiedlichen Projekten widmen, doch aus behördlichen Gründen sind alle gescheitert und so muss die junge Frau das Haus vor dem Verfall bewahren.
Vor zehn Jahren, am 23. August 2006, ist Natascha Kampusch die Flucht aus diesem Gefängnis gelungen. Nach achteinhalb Jahren in den Händen eines Mannes, der sich mit der Entführung eines Kindes seine eigene Welt erschaffen wollte. "Er hat Adolf Hitler bewundert und wollte, dass es mir so geht wie den Nazi Opfern. Er hat mir wenig zu essen gegeben, wenig Kleidung, hat mich gedemütigt, schwere Arbeiten verrichten lassen und mir eine Glatze geschoren."
"Gleichzeitig war es ihm auch recht, dass ich keine Haare mehr hatte, weil sie ein Symbol von Weiblichkeit sind und ich denke, er hatte viel Angst vor dem Thema Weiblichkeit. Er hat gemeint, dass ich ab nun keine Identität mehr besäße und ich jetzt in seinen Besitz übergegangen sei."
Doch Wolfgang Priklopil schafft es nicht, das Kind zu brechen. Auch wenn er sie bis zum Schluss schlägt und sie auf Schritt und Tritt kontrolliert, schafft sie es, sich kleine Freiheiten zu erkämpfen. Irgendwann bildet sich der Elektrotechniker sogar ein, mit Natascha Kampusch irgendwo mit falscher Identität als Frau und Mann zusammenleben zu können: "Dadurch, dass er sich seine eigene Welt kreieren wollte, hat er sich das eingebildet. Es war so eine Art letzter Ausweg, sonst hätte er mich vielleicht umbringen müssen. Ich habe zum Schein alles gut gefunden, damit ich dann irgendwann eine Chance bekomme, wegzulaufen."
Als Natascha Kampusch flieht, bricht für Priklopil die Welt zusammen. Er richtet sich selbst, indem er sich vor einen Zug wirft. Ab jetzt ist Natascha Kampusch die einzige, die die Wahrheit kennt und damit ist das Tor für Verschwörungstheorien und Anfeindungen geöffnet. "So richtig frei war ich in den vergangenen zehn Jahren nur in wenigen Momenten. Es war auch ein Gefängnis in das ich zurückgekehrt bin. Ein Gefängnis der Urteile und Verurteilungen." Natascha Kampusch habe es in Gefangenschaft besser gehabt, als in ihrer Kindheit, sie decke einen Pädophilenring, deswegen sei Priklopil ermordet worden, sie habe ihre Entführung selbst geplant, sei freiwillig zu Priklopil gegangen - die Phantasien der Verschwörungstheoretiker kennen keine Grenzen, dennoch schaffen sie es, dass die Causa fünf Mal untersucht wird. Ruhe kehrt erst ein, als 2013 FBI Ermittler und Beamte des deutschen Bundeskriminalamtes zum gleichen Schluß kommen, wie alle Untersuchungen zuvor: Es gibt keinen Hinweis auf mehrere Täter, es gibt keinen Grund, Natascha Kampuschs Schilderungen anzuzweifeln. Doch da ist der Schaden längst angerichtet: "Mit den Verschwörungstheorien hat man Hass auf mich gelenkt, mich als Lügnerin bezichtigt und alles angezweifelt. Die Menschen dachten, dass ich ein Kind bekommen und es umgebracht hätte. Und dann kamen so alte Damen auf mich zu und haben mich einfach geschlagen, oder mich als Lügnerin, oder Luder und Schlampe bezeichnet."Doch wie schon in der Gefangenschaft, lässt sich Natascha Kampusch nicht unterkriegen und geht ihren Weg. Sie will die Matura nachholen, nimmt Gesangsunterricht und reitet professionell. Auch wenn sie schon mehr gelernt hat, Vertrauen zu fassen und Gefühle zuzulassen, sucht sie immer noch ihren Platz auf dieser Welt. "Das freie Leben beginnt erst jetzt, denn bis jetzt war ich gezwungen, den Vorstellungen von irgendwelchen Menschen Widerstand zu leisten oder nachzukommen. Jetzt beginnt erst die Phase, wo ich wirklich versuche, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen und mich zu entfalten."
Christoph Feurstein zeigt Natascha Kampusch in diesem Thema Spezial zum zehnten Jahrestag ihrer Flucht auf ihrem Weg in ein normales Leben. Er hat sie mit ihrer Familie, Freunden und anderen Wegbegleitern getroffen, war mit ihr im Gesangs und Reitunterricht und ist mit ihr erstmals an den Ort ihrer Gefangenschaft zurückgekehrt - in das Haus von Wolfgang Priklpopil.